Tag 15
Heute ist der ganze Tag Schulbesuchstag! Den Vormittag verbringen wir an der Sapporo Kaisei Secondary School, einer neu gebauten Schule mit innovativem pädagogischem Ansatz. In Japan folgt nach der Primary School – also der gemeinsamen Grundschule von Klasse 1 bis 6 – die Junior High School, die sogenannte Mittelschule von Klasse 1 bis 3 (bei uns Klasse 7 bis 9), und danach die High School von Klasse 4 bis 6 (bei uns Klasse 10 bis 12). Die Schulpflicht endet mit Klasse 9, doch 98% der Schülerinnen und Schüler wechseln auf die High School, nach der etwa 50% der Absolventinnen und Absolventen an der Universität studieren. Die drei Schularten sind meist auch räumlich von einander getrennt an verschiedenen Standorten – von einzelnen Ausnahmen abgesehen, wie ich ja bereits erfahren habe. Hier setzt nun das Konzept der Kaisei Secondary School an: Nach einer Aufbauphase von insgesamt sechs Jahren – die Schule hat letztes Jahr mit je einer ersten (7.) und zweiten (8.) Klasse im Neubau gestartet und lässt die „alte“ Oberstufe aus dem früheren Altbau auslaufen – sind alle Jahrgangsstufen im neuen System vertreten. Die bisherige Aufteilung in zwei Mal drei Jahre wird geändert in drei Abschnitte (Klasse 1 und 2, Klasse 3 und 4, Klasse 5 und 6), die Schule wird so zu einer zusammengeführten Secondary School. Hinzu kommt die Ausrichtung als IB-Schule, das heißt, es besteht die Wahl zwischen dem herkömmlichen High-School-Abschluss, der mit bestandener Aufnahmeprüfung an der Universität den Zutritt zum Studium ermöglicht, und dem International Baccalaureat (IB), mit dem man an allen Universitäten weltweit studieren kann – ohne Aufnahmeprüfung! Das IB-Programm ist ein internationales Schulprogramm, das einige sehr ambitionierte Grundregeln aufgestellt hat, an denen sich die Schulen zu orientieren haben und die – wie ich sehr deutlich wahrnehme – so gänzlich unterschiedlich sind zur Ausrichtung des japanischen Schulsystems.
Dass die neue Kaisei Secondary School mit diesem neuen Konzept arbeitet, geht auf einen Beschluss der Stadt von 2011 zurück, nachdem bei einer allgemeinen Umfrage bei Eltern und Jugendlichen der deutliche Wunsch nach mehr Öffnung geäußert wurde. Im Blick auf die Olympischen Spiele 2020 in Tokyo, bei denen ja die Welt in Japan zu Gast sein wird, ist im Bereich Bildung sehr viel Bewegung zu spüren, das ist mir in vielen meiner Gespräche aufgefallen. Dazu gehört auch, das Know-How im Fach Englisch zu erweitern. An der Kaisei Secondary School unterrichtet man dazu fächerübergreifend in japanischer und englischer Sprache, in einer ersten Klasse konnten wir das im Fach Mathematik beobachten. Ganz schön anspruchsvolle Aufgaben wurden da gestellt am Ende des ersten Jahres Englischunterricht! Doch auch das gehört zum Konzept: Durchaus komplexe Anforderungen sollen gemeinsam gemeistert werden – eine weitere Innovation, mit der die Schule Pionierarbeit leistet. Schülerinnen und Schüler arbeiten eigenständig in Teams, der Frontalunterricht wird oft aufgelöst und die Lehrkraft wechselt die Rolle und begleitet nur noch bei Bedarf. Äußerlich macht sich die Öffnung auch dadurch bemerkbar, dass die Jugendlichen keine Schuluniform tragen. Und – für alle sicherlich eine große Entlastung – es gibt keine Prüfung mehr zwischen Junior High School und High School. Doch der Druck, der hier herausgenommen wird, kommt sicher an anderer Stelle wieder zurück.
Die Schule stellt sich mit diesem Konzept dem internationalen Vergleich, dadurch sind natürlich alle Beteiligten von der Schulleitung über die Lehrkräfte bis zu den „students“ stark gefordert. Dennoch ist die Schule so attraktiv, dass im letzten Jahr den etwa 100 Plätzen an die 1600 Bewerbungen gegenüber standen und – dann doch wieder – die Noten entschieden haben. Vom Gefühl her war diese Schule die erste (und einzige) in Sapporo (und vielleicht sogar japanweit?), die mich an die deutsche Sekundarstufe erinnert hat und an Unterrichtskonzepte wie Selbst-Organisiertes-Lernen (SOL), Lernbüros, Teamteaching und fächerübergreifendes Arbeiten. Und wie geht es einer Lehrkraft, wenn sie nach vier bis fünf Jahren wieder an eine „normale“ Schule versetzt wird? Es ist wohl durchaus gewünscht, dass neue Impulse weiter getragen werden…
Eine dieser „normalen“ Schulen ist unser Ziel am Nachmittag, die Sapporo Chuo Junior High School, dessen in die Jahre gekommenes Schulgebäude nächstes Jahr durch einen Neubau ersetzt wird. Die Schule im Innenstadtbezirk Sapporos – wenige Autominuten vom Odoripark und der Schulbehörde entfernt – besteht seit 48 Jahren. Drei Ziele stellen eine Art Leitbild dar, der sich die Schule verpflichtet hat:
- Sich selbst ernst und wichtig nehmen
- Freunde und Familie
- Ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft werden
Durch den Nachmittag führt uns der Stellvertreter des Schulleiters, da dieser eine Klasse beim Skisporttag begleitet – das ist wohl so üblich. Auch hier dürfen wir den Unterricht besuchen – überwiegend Frontalunterricht – und ich merke natürlich schon den Unterschied zum Vormittag…
Im Werkunterricht wird ein Lichtobjekt gebaut in Koproduktion mit dem Kunstunterricht. Bemerkenswert sind die großen Gruppen, in diesem Raum sitzen 36 Schülerinnen und Schüler, die der souveräne Werklehrer anleitet.
Einen Blick werfen wir auch in die Schulbibliothek. Diese gibt es an jeder Schule (ein hoher Standard, wie ich finde…), nicht aber den Luxus – wie hier – einer von der Stadt angestellten Ganztagskraft, die den Bibliotheksbetrieb betreut. Oft arbeiten auch Ehrenamtliche mit, wie auch an dieser Schule eine Mutter, die sich um Schülerinnen und Schüler kümmert, die sich dem Schulbetrieb verweigern, wohl ein Problem, das zunimmt, nicht nur in Sapporo.
Was mich total beeindruckt, sind die Club activities am Nachmittag nach Unterrichtsschluss. Da können die Schülerinnen und Schüler wählen zwischen Angeboten aus den Bereichen Sport, Musik, Theater, Werken und Kunst.
Wir schauen beim Basketball-Training zu, wohnen einer wirklich tollen Theaterprobe bei und ich bin total angetan von der Probe der Brass-Band. Sie spielen „Stars and Stripes forever“ von Philip Sousa und Norton Gould. Das könnte man ja fast als Statement auffassen …
Die Mitglieder der Brass-Band spielen ihr Instrument durchwegs erst seit ein oder zwei Jahren, da kann ich nur sagen: „Hut ab!“ Auch in der Theatergruppe und beim Sport haben wir viele Talente gesehen und ich konnte meinen Blick auf diese Angebote am Nachmittag, die immerhin von etwa 70% der Jugendlichen wahrgenommen werden, ein wenig korrigieren. Doch den Sportlehrer, der, vom Skitag zurück, dann noch über zwei Stunden lang das Basketball-Training anleitet und danach im Lehrerzimmer sitzt und den nächsten Tag vorbereitet, beneide ich nicht…
Den Abschluss des Arbeitstages bildet ein Foto rund um das Willkommensschild für mich, und einmal mehr freue ich mich, dass so viel für mich vorbereitet wurde!
Zum Tagesende auf dem Weg zum Zug gibt es noch ein paar Impressionen von Sapporo bei Nacht. Ich werde schon ein wenig wehmütig, wenn ich daran denke, dass es nur noch drei Arbeitstage hier sind. Am Donnerstag ist in Japan gesetzlicher Feiertag, der Tag der Reichsgründung, für mich die letzte Gelegenheit für Ausflug und Stadtbummel. Und mit der Straßenbahn wollte ich ja auch „noch einmal um den Block“ 🙂